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Nils Ellebrecht und Andrea zur Nieden auf dem Soziologie-Kongress von DGS und ÖGS im August 2021

Vom 23-25. August wird in Wien oder digital der Kongress 'Post-Corona-Gesellschaft? Pandemie, Krise und ihre Folgen' stattfinden. U.a. Nils Ellebrecht aus der SoSciBio-Forschungsgruppe veranstaltet dort die Ad-hoc-Gruppe 'Die Verwaltung des Notfalls: Wissensregime, Rationalitäten, Regulationstechniken'. Ellebrecht und Andrea zur Nieden sind dort jeweils mit einem Vortrag vertreten.

Der Aufruf ist hier zu finden. Beiträge können bis zum 18. April eingereicht werden.
Mehr Informationen zum Kongress gibt es hier https://kongress2021.soziologie.de/aktuelles

 

https://www.conftool.pro/soziologie-kongress-2021/index.php?page=browseSessions&form_session=50

 

Coronaverwaltung zwischen Kontrollgesellschaft und Gewurschtel

Andrea zur Nieden

Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Deutschland

Mitte März 2020 ging eine Youtube-Doku durch die sozialen Netzwerke, die eine Materialisierung von Deleuze‘ „Postscriptum über Kontrollgesellschaften“ zu zeigen schien: Die Stadt Nanjing in der Region um Wuhan hatte demnach eine Nullinzidenz von Coronainfektionen erreicht - durch ein umfassendes digitales Kontrollsystem, das an die Vision einer Stadt erinnert, „in der jeder seine Wohnung, seine Straße, sein Viertel dank seiner elektronischen (dividuellen) Karte verlassen kann, durch die diese oder jene Schranke sich öffnet“ (Deleuze 1990, 351). Zonen in der Stadt, Restaurants, Geschäfte hatten flexible digital unterstützte Schranken und gewährten nur Personen ohne Fieber und per ID-Nummer-Registrierung Einlass. Eine solche partikulare, modulare Abschließung/Öffnung von Territorien erschien aus deutscher Sicht des ersten Lockdown, der eher den Pest- oder Lepraregimen der Aus- und Einschließung folgte, fast wie eine positive Utopie: es konnte wieder ein soziales Leben stattfinden, wenn auch um den Preis ständiger Kontrolle.

Seither versucht Deutschland scheinbar, ein ähnlich modulares biopolitisches Regime umzusetzen, wenn auch demokratischer: Orte dürfen mit Registrierung, Masken, oder negativen Coronatests wieder betreten werden, es wird ein Impfausweis diskutiert. Die Durchsetzung erscheint aber träge, inkonsequent, und im Resultat ist Deutschland im April 2021 von einer Nullinzidenz weit entfernt. Zudem verfolgte Deutschland von Anfang an im Gegensatz zu Staaten wie China, Südkorea, Australien, etc. keine Zero-Covid-Strategie, sondern wollte lediglich im Dienste einer Homöostase verhindern, dass „das Gesundheitssystem überlastet“. Um jeden Preis sollte das Horrorszenario einer Triage verhindert werden, denn aktiv über Leben oder Tod zu entscheiden, widerspricht dem biopolitischen Versprechen „Leben zu machen“.

Im Vortrag sollen auf der Grundlage von Richtlinien, epidemiologischen Daten, explorativen Interviews u.a. in der Altenpflege die sich verändernden Verwaltungsregime in den Blick genommen werden. Gefragt wird unter anderem, welchen Anteil hier biopolitische Strategien haben und wie sie im föderalen Gewurschtel an den Schnittstellen von Behörden, Organisationen und Bevölkerung verwässern. Zudem soll im Sinne des weiten Foucaultschen Rassismusbegriffs beleuchtet werden, welche hierarchisch ordnenden Zäsuren innerhalb der Bevölkerung dabei stattfinden.


 

Unentscheidbarkeit. Die Triage als Programm zur Herstellung tragischer Entscheidungen in der Medizin

Nils Ellebrecht

Institut für Soziologie, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Deutschland

Dass nur prinzipiell unentscheidbare Fragen überhaupt entschieden werden können, ist eine oft zitierte Einsicht. Die paradoxe Fassung erlaubt es, die Praxis des Entscheidens dahingehend zu betrachten, wie Entscheidungen entparadoxiert werden. Der Blick fällt dann auf das soziale Arrangement und gute Argument, die die Wahl einer Alternative begründen und die Unentscheidbarkeit abdunkeln. Kennzeichnend für tragische Entscheidungen ist nun, dass es ihnen nicht gelingt, die prinzipielle Unentscheidbarkeit ihres Gegenstandes mittels vernünftiger Argumente oder anderer Hilfsmittel zufriedenstellend in den Griff zu bekommen. Ein gewähltes geringeres Übel verdient diesen Namen nicht. Auch nach der Entscheidung bleibt die Unentscheidbarkeit als eine offene Wunde bestehen, selbst dann, wenn nach geltenden Regeln „richtig“ entschieden wurde.Diese Tragik löst bei potentiellen Entscheidern, möglichen Betroffenen und Beobachtern Furcht und Mitleid aus.

In meinem Vortrag wende ich mich der Triage zu, die ich als ein Organisationsprogramm zur Herstellung tragischer Entscheidungen in der Medizin begreife. In der modernen Gesellschaft übernimmt sie die Funktion, das Gleichheitspostulat/Inklusionsgebot auch unter widrigsten Umständen möglichst umfassend gelten zu lassen. In der Organisation regelt sie die Priorisierung normalerweise nicht abstufungsbedürftiger Leistungsansprüche. Die professionelle Arbeit entlastet sie wiederum von Entscheidungen, die in letzter Konsequenz rein medizinisch gar nicht richtig entschieden werden können. Während die Triage genau aus diesen Gründen eingerichtet wurde, gehört es zugleich zur bitteren Eigenart der Triage die genannte Funktion, Regelungsleistung und Entlastung niemals in Gänze erbringen zu können. Ihre Entscheidungen benachteiligen durch Exklusion, ihre Regelungsschärfe bleibt ergänzungsbedürftig, ihr praktischer Vollzug moralisch verletzend.

Die vorgestellten Thesen entfalte u. illustriere ich an einer Reihe von (historischen) Beispielen aus der Notfall- und Katastrophenmedizin und der aktuellen Diskussion zur Anwendung und Regelung der Triage im Rahmen der Covid-19-Pandemie. Dabei geht es nicht darum, unterschiedliche ethische Gesichtspunkte und ihre jeweiligen Vor- und Nachteile vorzustellen und zu bewerten. Dagegen wird aufgezeigt, wie Triage-Entscheidungen verhindert, verlagert, eingegrenzt, vorbereitet und prozessiert werden.